Ein Nachmittag im April 2020. Draußen herrscht Corona-Ausnahmezustand, drinnen klingelt das Telefon in unserem Kinderpalliativteam.
Die Anfrage kommt aus einer benachbarten Kinderklinik: Ein neugeborenes Mädchen, zweieinhalb Wochen alt, liegt dort intubiert auf der Intensivstation – mit einer infausten Prognose. Die Eltern haben einen Herzenswunsch: Sie möchten ihre Tochter wenigstens für ein paar Stunden mit nach Hause nehmen. Damit sie ihre Familie kennenlernen kann – ihre Geschwister, die Großeltern, das Zuhause, das für so viele Kinder alltäglich ist.
Das Mädchen soll für den Transport intubiert bleiben, dann zu Hause extubiert und mit seiner Familie in einer vermutlich sehr kurzen Sterbephase zu Hause begleitet werden. Wir kennen die Familie nicht, haben eine solche Situation selbst noch nie begleitet. Und trotzdem: Wir zögern keine Sekunde. Wir sagen Ja. Auch wenn zu dem Zeitpunkt noch niemand von uns weiß, wie es genau gehen kann, spüren wir, dass es keinen anderen Weg gibt.
Am nächsten Tag treffen wir – eine Ärztin, zwei Pflegekräfte und unsere Seelsorgerin – am Nachmittag bei der Familie ein. Wir werden herzlich empfangen. Die Familie sitzt am Tisch, isst Suppe. „Der Tag wird lang und anstrengend“, sagt der Vater. „Da brauchen wir noch eine Stärkung.“
Wenig später trifft der Rettungswagen mit der kleinen Schwester ein. Wir übernehmen das intubierte Kind von der begleitenden ärztlichen Kollegin. Nun ist sie daheim.
Nun ist dieser kleine Mensch in seiner Familie angekommen. Und plötzlich wird aus einem traurigen Abschied etwas Lebendiges, Intensives. Mit großer Zuwendung, tiefer Traurigkeit und ganz viel liebevoller Fürsorge durch die Geschwisterkinder wandert das kleine Mädchen von Schoß zu Schoß. Auch die Großeltern kommen noch dazu und sind dankbar ihr Enkelkind noch einen Moment im Arm halten zu dürfen, da auch sie wegen der Pandemie keinen Zugang zum Krankenhaus gehabt hatten.
Unter Beutelventilation bleibt die respiratorische Situation stabil. Im Team gelingt es uns nicht nur allen Familienmitgliedern ihren Moment mit dem Baby auf dem Arm zu schenken, sondern auch die drei Schwestern im Vorschul- und Grundschulalter nach ihren Bedürfnissen zu begleiten. Während eine Schwester auf der Klangharfe spielt, möchte die andere im Garten spielen. Wir gehen mit. Anders als erwartet wird es ein sehr lebendiger Tag. Wir basteln gemeinsam kleine Abschiedsgeschenke, singen Lieder, zum Schluss. Es ist ein Nachmittag voller Nähe, Fürsorge, Leben und Liebe – mitten im Sterben.
Am späten Nachmittag wird das Mädchen in den Armen ihrer Eltern extubiert. Sie stirbt ruhig und friedlich geborgen. Am Ende des Tages baden die Eltern und Schwestern das kleine Mädchen Sie kleiden es liebevoll ein, nehmen Hand- und Fußabdrücke – Erinnerungen für ein ganzes Leben.
In einer Zeit, in der draußen Abstand das Gebot war, ist drinnen eine große Nähe entstanden. Zwischen der Familie und uns.
Es war eine ganz besondere Versorgung, die uns am späten Abend demütig und dankbar zurückfahren lässt. Wir würden es immer wieder tun!
August 2025
